Was ist ein Reallabor?

Der Begriff Reallabor stammt aus der Übertragung des naturwissenschaftlichen Laborbegriffs in die reale Welt, um Analysen in politischen und gesellschaftlichen Prozessen durchführen zu können (Wanner et al. 2019). Es ist kein typischer Laborraum in einer Forschungseinrichtung, sondern z.B. ein Stadt-Viertel, ein Dorf oder eine Gruppe von Menschen, die ein gemeinsames Thema verbindet.

Das Wort Labor in Reallabor beschreibt die Arbeitsweise, in der miteinander gearbeitet wird. Das Herzstück dieser Laborarbeit ist das Experiment. Forschung und Teile der Gesellschaft experimentieren gemeinsam, um Lösungsansätze für aktuelle (lokale) Probleme zu finden.

In ihrem Ursprung sind Reallabore für die städtische Raumplanung erdacht worden (Wanner et al. 2019, S. 2ff) und ein relativ junger Ansatz (Jahn u. Keil 2016) der partizipativen Arbeit mit unterschiedlichen Akteuren, sogenannten Stakeholdern. Stakeholder sind Menschen, die durch ein gemeinsames Interesse oder Anliegen verbunden sind, z.B. Berufsgruppen, Unternehmen, Umweltverbände oder auch Behörden.

In der transdisziplinären Forschung wird davon ausgegangen, dass es nicht möglich ist Lösungen für komplexe soziale Probleme zu finden, indem nur ein kleiner Teil der Gesellschaft sich damit auseinandersetzt (Franke et al. 2021). Gesellschaftliche Themen von hoher Komplexität, wie z.B. die Fischereikrise, können nur in transdisziplinärer Zusammenarbeit erschlossen werden. Transdisziplinär bedeutet dem Sinn gemäß über (Forschungs-) Disziplinen hinaus und meint damit, dass Forschende und Stakeholder auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Dabei bringen die Beteiligten deren Wissensformen ein, z.B. Fach- und Erfahrungswissen, lokales, regionales oder abstraktes Wissen (Lang et al. 2012). Dieser Wissensaustausch ist wesentlich, um komplexe Probleme erfassen und damit Lösungsansätze entwickeln zu können. Der Grad der Wissensintegration von nicht-akademischen Akteuren spielt eine entscheidende Rolle dabei, ob und inwieweit Forschung als transdisziplinär verstanden wird (Grünhagen et, al, 2022).

Grundlage für diese Zusammenarbeit ist eine partizipative, demokratische Haltung (Straßburger, Rieger 2019, S. 56 ff) aller Beteiligten. Praktisch bedeutet Teilhabe im Reallabor, dass es methodisch weitestgehend ermöglicht wird, sich individuell einzubringen und an Prozessen sowie an Abstimmungsprozessen im Reallabor teilnehmen zu können. Damit werden die Ziele verfolgt gesellschaftliche Wirklichkeiten zu verstehen (Unger 2014, S. 1 u. 40 ff) und diese im Reallabor experimentell zu verändern, um daraus zu lernen.

Im Reallaborprozess kommen Stakeholder und Forschende zusammen, um in Kooperation Lösungswege für ein komplexes Problem zu finden, mit dem Ziel den Ist-Zustand zu verbessern. Gemeinsam werden aus  Lösungsideen Experimente entwickelt (Ko-Design), durchgeführt, ausgewertete (Ko-Produktion) und ggf. so lange angepasst (Ko-Evaluation), bis ein Lösungsweg gefunden ist. Während dieser Prozesse entstehen Möglichkeiten für Transformation, für Veränderung von Gegebenheiten. Diese können beispielsweise ein nachhaltiger Umgang mit Ressourcen sein und eine Veränderung im Wertesystem beinhalten, wie Soziale- oder Umweltgerechtigkeit.

Weil Problemstellungen je nach örtlichen Zusammenhängen und sozial-ökonomischen Hintergründen der Stakeholder und deren Betätigungsfelder sehr unterschiedlich sein können, gibt es keine einheitliche Methode wie in Reallaboren gearbeitet wird (Franke et al. 2022), keinen allgemeingültigen Fahrplan nach dem jedes Reallabor aufgebaut ist. Es gibt jedoch Gemeinsamkeiten, welche in den meisten Reallaboren in unterschiedlicher Gewichtung angewandt werden (vgl. Wanner et al. 2019, Rose et al. 2018, Schäpke 2018).

Maritime Reallabore im Projekt SpaCeParti

Reallabore sind bislang überwiegend im Zusammenhang von städtischer Raumplanung durchgeführt worden. Die beiden Reallabore des Projekts SpaCeParti nutzen diese Methode nun auch für marine Themen, was bisher selten versucht wurde (Franke et al. 2021). In diesen wird sich mit den komplexen Interaktionen zwischen menschlichen, sozio-ökonomischen Gesellschaftsbedingungen (Fischerei, Tourismus, Offshore Energie, Ökonomie, Politik) und den natürlichen Bedingungen im Meer der westlichen Ostsee (Biodiversität, Klimawandel, Eutrophierung) auseinandersetzt.

Daher können methodische Grundlagen aus Reallaboren anderer Kontexte angewandt (Wanner et al. 2019, Rose et al. 2018, Schäpke 2018) und auf maritime Reallabore angepasst werden.

Daher übernehmen wir folgende Kerncharakteristika für maritime Reallabore. Ein maritimes Reallabor:

  • hat eine thematische Eingrenzung.
  • hat eine geographische Verordnung
  • hat realweltlichen Probleme als Ausgangspunkt.
  • ist ein experimenteller Raum in dem Lösungsideen für realweltliche Probleme erdacht, getestet und evaluiert werden.
  • ist deshalb ein Ort, in dem
    • durch Reflexion und Variation von Lösungsansätzen Lernprozesse stattfindet.
    • auf diese Weise Wissenstransfer zwischen Stakeholdern und Wissenschaft passiert.
    • transdisziplinäre gearbeitet wird.
  • ist auf Langfristigkeit ausgelegt, um Vertrauen aufzubauen und strukturellen und gesellschaftlichen Wandel initiieren und begleiten zu können.
  • liefert einen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung im Bezugsrahmen Meer-Land/Gesellschaft-Natur.

Projekte in den maritimen Reallaboren ​

Seit Mai 2022 werden im Projekt SpaCeParti zwei Reallabore aufgebaut: eines in Schleswig-Holstein, in den Orten Stein und Wendtorf, ein anderes in Mecklenburg-Vorpommern in der Wismarbucht. Dabei wird eine bottom-up Strategie verfolgt, indem zunächst eine Kern-AG von Stakeholdern der kleinen Küstenfischerei aufgebaut wurde. Mit dieser wurden lokale Probleme erörtert und Projektideen zu deren experimenteller Lösung entwickelt. Im nächsten Schritt werden nun weitere Stakeholder für eine Mitarbeit in die individuellen Projekte eingeladen.

Stein-Wendtorf: Lehrpfad

Bildungsprojekt zum Thema Küstenkultur in Form eines Lehrpfades, der Anwohnende und Touristen über Küstenschutz und Küstenfischerei informiert.

  • Mit dem Projekt möchten wir Akteure vor Ort und der Region zusammenbringen und ein Netzwerk für Themen zur nachhaltigen Entwicklung in den Orten aufbauen, bestehend aus Stakeholdern der Küstenfischerei, Tourismus, Natur- und Umweltschutz und kommunale Politik.

Wismarbucht: Förster des Meeres

  • Das Reallabor Wismarbucht mit der dort ansässigen Fischereigenossenschaft ist die Keimzelle für eine große Idee: Das Berufsbild der Küstenfischerei muss angepasst werden, damit es zukunftsfähig wird. Arbeitstitel: Förster des Meeres
  • Die Idee ist eine Zusatzausbildung für Küstenfischende aufzubauen, um Aufgaben im Bereich Ökosystempflege, Fischereimanagement mit Forschung und im Tourismus zu übernehmen. Hier ist eine kommunale Finanzierung wichtig.

Franke, A., Peters, K., Hinkel, J., Hornige, A., Schlüter, A., Zielinski, O., Wiltshire, K. H., Jacob, U., Krause, G., Hillebrand, H. (2021, December 6): Making the UN Ocean Decade work? The potential for, and challenges of, transdisciplinary research & real-world laboratories for building towards ocean solutions. https://doi.org/10.31219/osf.io/6sfe8

 

Caroline Grünhagen, Felix Gross, Heike Schwermer, Rudi Voss, Christian Wagner-Ahlfs and MarieCatherine Riekhof: The multifaceted picture of transdisciplinarity in marine research; in preparation as Chapter for the upcoming book ‘Knowledge Co-Production for Sustainable Seas – Reflections on Transdisciplinarity in Times of an Ocean in Crisis’.

 

Jahn, Th.; Keil, F.: Reallabore im Kontext transdisziplinärer Forschung (2016). In:  GAIA – Ecological Perspectives for Science and Society, Volume 25, Number 4, 2016, pp. 247-252 (6). Oekom Verlag; https://doi.org/10.14512/gaia.25.4.6.

 

Lang, D.J., Wiek, A., Bergmann, M., Stauffacher, M., Martens, P., Moll, P., Swilling, M., Thomas, C.J., 2012. Transdisciplinary Research in Sustainability Science: Practice, Principles and Challenges. Sustainability Science 7, 25–43. https://doi.org/10.1007/s11625-011-0149-x

 

Rose, M.; Wanner, M., Hilger, A. (2018). Das Reallabor als Forschungsprozess und -infrastruktur für nachhaltige Entwicklung – Konzepte, Herausforderungen und Empfehlungen. NaWiKo Synthese Working Paper No 1 https://nachhaltigeswirtschaften-soef.de/synthese-reallabore

 

Unger von, H. (2014). Partizipative Forschung – Einführung in die Forschungspraxis. Springer VS, Wiesbaden 2014.

 

Wanner, M., Stelzer, F. (2019): Reallabore – Perspektiven für ein Forschungsformat im Aufwind; In: in brief – Wuppertaler Impulse zur Nachhaltigkeit, 07/2019

 

Schäpke, M. (2018) in: Rose, M., Wanner, M., Hilger, A. (2018): Das Reallabor als Forschungsprozess und -infrastruktur für nachhaltige Entwicklung – Konzepte, Herausforderungen und Empfehlungen. NaWiKo Synthese Working Paper No 1, S. 8.

 

Straßburger, G., Rieger, J. (Hrsg.) (2019): Partizipation kompakt – Für Studium, Lehre und Praxis sozialer Berufe. Beltz Juventa, Weinheim Basel, 2. Auflage 2019.